U. Altermatt (Hrsg.): Katholische Denk- und Lebenswelten

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Titel
Katholische Denk- und Lebenswelten. Beiträge zur Kultur und Sozialgeschichte des Schweizer Katholizismus im 20. Jahrhundert


Herausgeber
Altermatt, Urs
Erschienen
Freiburg 2003: Academic Press
Anzahl Seiten
263 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Markus Furrer, Pädagogische Hochschule Zentralschweiz

Der Sammelband vermittelt mit einer Auswahl von Beiträgen des 2002 in Freiburg abgehaltenen Forschungskolloquiums einen Einblick in Stand, Schwerpunkte und Entwicklung der Freiburger Katholizismusforschung. Nach dem Einleitungsteil von Urs Altermatt und Franziska Metzger folgen sechs Beiträge zur Thematik «Lebenswelten: Alltag, Riten, Mentalitäten» sowie sieben Beiträge zum Aspekt Denkwelten: Feindbilder und Diskurse».

Urs Altermatt hebt in seiner Einführung die Gewichtsverlagerung von der Struktur- und Sozialgeschichte zur Kulturgeschichte hervor. Franziska Metzger macht drei Perioden der Freiburger Katholizismusforschung aus: die sozialgeschichtliche Erforschung von Vereinen und Parteien (1970–1989), die Alltags- und Mentalitätsgeschichte zu Lebenswelt, Religiosität und Frömmigkeit (1989–1997) sowie die Ideen- und Intellektuellengeschichte zu Diskursen der Identität, der Exklusion und Inklusion (1997 bis heute), die sie als Ausdruck des «cultural turn» bezeichnet (S. 10). Der Band mit seinen Beiträgen ist ein guter Beleg für diese Entwicklung.

Eingangs zeigen Altermatt und Metzger die Interrelation der subkulturellen und substrukturellen Ebene des katholischen Milieus auf und stellen Reflexionen zu Teilmilieus im Schweizer Katholizismus an. Sie entwickeln neue und richtungsweisende Ansätze zum Subgesellschafts- und Milieumodell der Katholizismusforschung (S. 15–36).

Unter dem Aspekt der «Lebenswelten» skizziert Urs Altermatt den Paradigmenwechsel von der kirchlich bestimmten zur pluralen Sonntagskultur (S. 39–54). Roland Kuonen schreibt über die «Übergangsriten in Leuk» mit Blick auf die «Inszenierung sozialer Differenz» am Beispiel der Hochzeit und der Beerdigung (S. 55–65). Patrick Geiger befasst sich mit der «Volksmission» als wichtigem Mittel sozialer Disziplinierung, die nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels ein jähes Ende fand (S. 67–84). Stephan Moser beschäftigt sich mit «Sparen und Kredit in den katholischen Raiffeisenkassen»: er geht von der These aus, dass katholische Weltanschauung und Mentalität die Verankerung und Verbreitung dieses Bankentypus erleichtert haben, wobei die Kassen gleichzeitig als «Modernisierungshelfer» aufgetreten seien (S. 85–96). In einer Untersuchung über die «Frauen zwischen Gehorsam und Emanzipation im katholischen Milieu von Olten» kommt Mirjam Moser zum Schluss, dass «nicht zuletzt, weil die Kirche so lange wie möglich daran festhielt», sich das Idealbild als «Mutter, Haus- und Ehefrau» bis in die 1950er Jahre hielt (S. 97–118). Ein weiterer Beitrag von Mirjam Künzler thematisiert die «Sexualmoral aus der Perspektive katholischer Frauen- und Familienzeitschriften». Auch hier kommt der Wandel «vom erhobenen männlichen Zeigefinger zur Emanzipation der katholischen Frau» zum Vorschein, wobei die Zeitschriften die Chance verpasst hätten, den Frauen weiterhin Orientierung in der modernen Welt zu bieten (S. 119–131).

In einer zweiten Gruppe erscheinen die Beiträge zu den «Denkwelten». Hier tritt der Mechanismus der Konstruktion von Identitäten in den Vordergrund. Zentrale theoretische Konzepte sind Selbst- und Fremdbeschreibung, Integration, Inklusion und Exklusion. Aus kulturgeschichtlicher Perspektive lässt sich das katholische Milieu als Kommunikationsgemeinschaft beschreiben, wie dies die folgenden Beiträge angehen: Zsolt Keller zeigt am «Eidgenössischen Bettag als Plattform nationaler Identität der jüdischen und katholischen Schweizer» auf, wie in Zeiten der Krise in den Jahren 1933 bis 1945 Schweizer Juden diesen als Gelegenheit zum Ausdruck patriotischer Gesinnung nutzten, wobei die jüdische Minderheit trotzdem als weitgehend fremd wahrgenommen worden sei (S. 135–150). Franziska Metzger veranschaulicht am Beispiel der zutiefst antimodernen, utopisch und endzeitlich-apokalyptischen Rekatholisierungsdiskurse des integralistischen-rechtskatholischen Teilmilieus den in hohem Masse von «Multifunktionären» geprägten Mechanismus, der auf einer Verbindung von Feindbildern der Exklusion und Gesellschaftsbeschreibungen im Sinne von Gegenkonzepten basiert (S. 151–173). Stephan Aerschmann analysiert in seinem Beitrag das Demokratieverständnis katholischer Intellektueller mit Bezug auf die faschistisch-autoritäre Regierungsform Italiens. Er spricht von einem ambivalenten Verhältnis, indem diese eine entsprechende Regierungsform für die Schweiz ablehnten, jedoch das selbe Regime für Italien als gangbare und gute Lösung einstuften (S. 175–186). Christina Späti untersucht das vielschichtige Verhältnis der Katholiken zum Zionismus», deren Position nicht einheitlich war. Der Weltkrieg brachte hier keinen grundlegenden Wandel, so blieb der Vatikan nach der Shoa bei seiner ablehnenden Position gegenüber dem Projekt eines jüdischen Staates (S. 187–207). Annetta Bundi Boschetti schreibt über den am Rande des Milieus situierten rechtskonservativen Publizisten Baptist Rusch, den sie «zwischen Konservatismus, Nationalismus und Erneuerungswillen» ortet und als unkonventionell und sprunghaft umschreibt (S. 209–218). Bernhard Altermatt, der die sprachlich-konfessionelle Situation im mehrheitlich katholischen Kanton Freiburg untersucht, zeigt auf, wie die Konfession als Identifikations- und Ausschliessungsfaktor gegenüber der Sprache in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an Gewicht verlor (S. 219–245). Den Antikommunismus in der ‘Schweizer Rundschau’ nach dem Zweiten Weltkrieg untersucht Thomas Metzger. Das bedeutende Sprachrohr für katholische Intellektuelle prägte massgeblich den antikommunistischen schweizerischen Grundkonsens mit (S. 247–263).

Diese Einzelstudien können, so der Herausgeber, keine umfassende Darstellung bieten, sie sind jedoch von beeindruckender Breite und Vielfalt. Und wie die Hinweise auf die «Forschungsperspektiven» (S. 27) verdeutlichen, geben uns die Beiträge dazu verschiedene Antworten an konkreten Beispielen.

Zitierweise:
Markus Furrer: Rezension zu: Urs Altermatt (Hg.): Katholische Denk- und Lebenswelten. Beiträge zur Kultur und Sozialgeschichte des Schweizer Katholizismus im 20. Jahrhundert. Freiburg, Academic Press Fribourg, 2003. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 54 Nr. 3, 2004, S. 332-333.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 54 Nr. 3, 2004, S. 332-333.

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